Topografische Anatomie (English version)
Die
künstlerischen Arbeiten von Heike Lydia Grüß zeigen eine besondere
Verquickung aus Wissenschaft, Forschungsdrang und eigener Weiterführung
alter Fotoquellen. Derartige Fotografien stammen von Reisen in
Kolonialländer und sind besonders in der Zeit zwischen 1870 - 1930
entstanden. Sie geben ein Bild wieder von der damaligen Tier- und
Pflanzenwelt, den Menschen mit ihren Familienstrukturen, Traditionen,
Schöpfungsmythologien, Geisterwanderungen und Tabus. Doch ebenso geben
die Fotografien den westeuropäischen damaligen Blickwinkel auf diese
Ländern wieder. Das zahlreich bebilderte Buch Das Weib bei den Naturvölkern. Eine Kulturgeschichte der primitiven Frau
(1931), herausgegeben von Ferdinand Freiherr von Reitzenstein, gab den
ersten Anstoß für die Auseinandersetzung mit dem Thema Kolonialländer
und ihre Menschen. So entstanden u.a. die ersten zwei Zeichenserien
"Reitzenstein" (2005). Unweigerlich mit in diese Arbeiten gehört auch
der Umgang mit theoretischen Gesichtspunkten der Anthropologie. Erwähnt
sei hier Edward Burnett Tylors (1832-1917) klassische Definition von
Kultur. Ihmzufolge wird in der Anthropologie davon gesprochen, dass
Kultur aus Kunst und Moral, Glaubensinhalten, Gebräuchen, Kenntnissen
und anderen Fähigkeiten, die vom Menschen einer Gesellschaft erwartet
werden. Im Zusammenhang mit dem von Tylor entwickelten Begriff der
"Survivals" (= "Überlebsel") - erhaltengebliebene Restpartikel, die ein
Bild fast verschütteter Kulturen vergegenwärtigen können - eröffnet
sich ein neuer Blick auf die Werke von Heike Lydia Grüß. Wir erkennen
in ihnen eine Anlehnung an Zeugnisse verstrichener Entdecker- und
Forscherzeiten, die nun jedoch verändert, übermalt, verzerrt und
grotesk in bizarr schimärenhafter Weise der frühen Faszination für
fremde Ländern einen Spiegel vorhalten. Insofern gewinnen Tylors
"Überlebsel" eine weitere Bedeutungsebene, denn Fotoausschnitte oder
-fragmente werden von der Künstlerin zusammengesetzt und ergeben ein
neues Netz, einen neuen Report über die scheinbar verlorengegangenen
Kulturen.
Die Auseinandersetzung mit diesen Fotografien wirft Fragen auf:
inwieweit sind die Vorstellungen von der Fremde, dem fremden Land im
Vorfeld generiert; inwiefern versucht man, Gesehenes oder Erforschtes
in seine Erfahrungen zu zwängen, sie mit den Anfangsdaten abzustimmen?
Wie offen ist man für Unerwartetes, nicht in die eigene Vorstellung
Passendes? Hat der europäische Forscher sich seine (vorgestellte)
fremde Landschaft einschließlich in ihr lebender Menschen vor-generiert
oder nach einer Erfüllung der geographischen Utopie gesucht?
Die Kunst wird hierbei gleichsam zum Forschungs-
Entdeckungsterritorium. In der Betrachtung der alten Fotografien, in
ihrer Überarbeitung, Übermalung und neuen Zusammensetzung schichten
sich palimpsestartig Ebenen über Ebenen, entstehen neue Gesichter. Doch
werden vielleicht durch diese Verfremdung die Schichten ebenso
aufgebrochen und hinter eine Oberfläche geblickt, die sich als
existenzberechtigte Parallelebene entpuppt. Etappe für Etappe werden
die Zeichnungen aufgereiht wie Wegmarken und verändern sich. Auf einem
Platz der Forschung formieren sich Fremdes und Vertrautes, Nahes und
Fernes, wird die Kunst zur Trägerin von Erfahrung.
(Ulrike Olms)
Von Gestalten zu künden,
die in neue Körper verwandelt wurden,
treibt mich der Geist.
(Ovid. Metamorphosen. Erstes Buch)