Heidi Stecker, 2021
Passion Pink. Über Feminismus im Werk von Heike Lydia Grüß
Weibliche Personen präsentieren sich zum
Porträt. Sie tragen merkwürdige Kappen und Hauben. Feine Strichlagen bekleiden
sie, Auslassungen markieren, verbergen oder legen Brüste frei. Pinkfarbene
Brustwarzen wiederholen sich als Tapetenmuster oder Wandteppiche. Tastende
Hände greifen nach den anderen, wie um sich zu vergewissern. Sperrige Linien
akzentuieren Silhouetten und schwache Schatten, andere verschwimmen wie durch Schleier.
In den subtil schraffierten Teppichformationen kehren Formen wie Kreise und
Rauten wieder. Schwarz, weiß und grau nuanciert Grüß Membranen, die Räume
bergen, in die sie neonfarbige Flächen stempelt, schabloniert und streicht.
Dichte Strukturgewebe treffen auf für das Schaffen von Grüß ungewohnt grelle
Farbpartien. Sie blinken regelrecht in Gelb, Orange und Rosa, eine unerwartete
Leidenschaft für Rosa zeigt sich, Passion Pink. Doch die Spannung wird mit Maß,
Dissonanz mit Harmonie gekontert. Vielfache Übersetzungsakte fließen neben
pseudoethnologischem Bildmaterial ein. So leitet das Etymologische Wörterbuch
der deutschen Sprache die „Raute“ vom mittelhochdeutschen rūte und sie vom
althochdeutschen rūta ab, wiederum entlehnt vom lateinischen ruta, griechisch
rhȳtḗ (ῥυτή, „Bitterkraut“). Bitter mag manchen diese Unbestimmtheit
erscheinen, die über diesen Blättern liegt. Einst suchten die Romantiker:innen
im frühen 19. Jahrhundert die aus den Fugen geratene Welt zu erfassen. Man sah
kein Land mehr, Vollkommenheit, Geschlossenheit schien in einer sich rasant
eskalierenden Moderne unmöglich. Sie reagierten mit forcierter Subjektivität,
Fragmentierung und Verfremdung. Friedrich Schlegel entwickelte mit seinem
Kollegen Novalis den modernen Begriff der Romantik und der künstlerischen
Produktivität.[2]
Novalis übertrug den Gedanken der Produktivität des Geistes auf die Ästhetik
und schrieb: „Wir wissen etwas nur – insofern wir es ausdrücken – […] machen
können. Je fertiger und mannichfacher wir etwas produciren, ausführen können,
desto besser wissen wir es […].“[3]
Diese Produktionsästhetik löste die traditionelle Nachahmungslehre ab: „Der
Künstler selbst, nicht die Natur, produziert das Schöne.“[4]
Bei Heike Grüß geht es durchaus um das
Schöne, aber mit Witz. Sie praktiziert mithin eine tätige Romantik. Und ihre
Position ist dezidiert feministisch. Aber was ist an den Pastellen
feministisch? Dass die weiblichen Figuren fein und niedlich, aber auch herb und
spröde sind? Dass ihre Gesichter unscharf sind, ja, ihnen fast genommen werden?
Damit sie sich im Schutz der Weißgrauschleier ihr eigenes Antlitz schaffen
können? Und einen eigenen Körper? Sekundäre Geschlechtsmerkmale werden
verdeckt, Körper sind vorhanden und verlieren sich zugleich. Der immanente
Feminismus liegt in den Methoden, nicht im offenkundigen Motiv oder Antimotiv.
Die Gesichter können nur erahnt werden. Der
entscheidende Ort des menschlichen Ausdrucks geht damit verloren. Der Verlust
wird oft als Krisenindikator empfunden, denn Gesichter zählen zum etablierten
Repertoire künstlerischen Arbeitens. Viele erhoffen sich von einem Bildnis
bündige Aussagen zum Subjekt und zur Gesellschaft und sind beunruhigt, wenn ein
Individuum nicht eindeutig identifizierbar ist, sich gleichsam entzieht; es
verstimmt, wenn etwas offenbleibt, keine hundertprozentige Antwort gegeben
wird, sich etwas ständig ändern kann.
Die stilisierten puppenhaften Figuren
erinnern mit ihren halbleeren Gesichtern an die Nicht-Gesichter der
„Budetljanje“, der „Zukünftler“ von Kasimir Malewitsch. Von 1928 bis 1932 fiel
er scheinbar von der Höhe seines Schwarzen Quadrates zurück zu figürlichen
Darstellungen; die seltsamen Bauernfiguren gaben lange Zeit Rätsel auf, galten
gar als Anpassung an die stalinistische Kulturpolitik und als unvereinbar mit
einem – simplifizierten – Fortschrittsdenken in der Kunst. Doch verweisen sie
auf reale Zerstörungen, auf eine tatsächlich leere Zukunft, auf ein existentes
Nichts. Mit dem Gesicht verschwand die Gewissheit über den Menschen aus
Malewitschs Zukunft. Mit Ungewissheit können viele schlecht leben, sie wird oft
als nicht aushaltbar empfunden. Die Romantiker:innen erfassten diese
wesentliche Stimmung moderner Kunst: Individualität und Klarheit treffen auf
das Geheimnis, das Unheimliche. Das verunsichert uns und wir übertragen die
Verunsicherung auf unsere Umgebung.
Ein Nicht-Gesicht stellt die Verheißung eines
ganzheitlichen Menschenbildes infrage. Was wird zur Darstellung gebracht und
was nicht? Denn Leere und Unklarheit ängstigen oft. Dem entgegen füllt Grüß
ihre Blätter wie in einem Horror vacui. Aneinander gereihte Schuppenmuster
füllen den Hintergrund.
Überzeichnend und schichtend verwandelt sich
das Papier stetig. Der Irritationskurs stellt sexistische Maßstäbe infrage. Die
Zeichnungen vollziehen sich, wenn ich Novalis auf Grüß beziehe, in der „Kunst –
Fähigkeit bestimmt und frey zu produciren […].“[5]
Bestimmt, also mit Absicht, und frei, sich spielerisch dem Prozess hinzugeben.
Novalis’ Freiheit der Entscheidung – das ist eine gute Idee von einem, der
wusste, wie man aus Stoffen wie Kohle, Salz und Mineralien etwas Neues formt.
Feministisch ist es, Erwartungen und vermeintlichen Eindeutigkeiten den Boden
zu entziehen, die Perspektive zu wenden, durchlässige Räume herzustellen und
Verständigung zu ermöglichen.
[1] Verschiedene Formate: 50 × 70 cm, 70 × 100 cm, 100 × 140
cm.
[2] Vgl. Friedrich
Kluge/Alfred Götze, Etymologisches
Wörterbuch der deutschen Sprache. Hg. v. Walther Mitzka, Berlin 1975, S.
606.
[3] Richard Samuel (Hg.), Novalis Schriften. Die Werke Friedrich von
Hardenbergs, Stuttgart 1981, Bd. 2, S. 589.
[4] Silvio
Vietta, Die Frühromantik. In:
Wolfgang Bunzel (Hg.), Romantik.
Epoche, Autoren, Werke. Darmstadt 2010, S. 11−25, hier 13.
[5] Richard Samuel (Hg.), Novalis Schriften. Die Werke Friedrich von
Hardenberg, Bd. 2, Stuttgart 1981, S. 585.