Heidi Stecker, 2021
Passion Pink. Über Feminismus im Werk von Heike Lydia Grüß

Unausweichliche Widersprüche begegnen einem im Werk der Künstlerin Heike Lydia Grüß: Durch sein Tun immer auch ein Gegenteil des Gesetzten schaffen, einreißen, was man aufgebaut hat, nach vorn blicken und sich gleichzeitig zum Gestern verhalten. Grüß, die in Berlin und Ludwigsburg lebt, arbeitet häufig in Serien; die Blätter verlängern sich dadurch in Raum und Zeit, denn das im Augenblick stillstehende Bild wird zum bewegten und arbeitet sich, mit Blick und Blick wandernd und mit der Hand geblättert, vor und zurück. Dabei erkundet Grüß gleiche oder ähnliche Motive und erprobt Neues. So in der Serie „Passion Pink“ von 2020, die sie mit Pastellstiften auf Papier brachte.[1] Mit den pulverigen und die Konturen sanft verwischenden Pigmenten wurden duftige und zarte Mädchen- und Damenbildnisse gemalt, so wie im 18. Jahrhundert von Rosalba Carriera und Jean-Étienne Liotard. Die samtig-matte Oberfläche der Porträts bewirkt eine ganz besondere Leuchtkraft. Jedoch wirkt Pastellmalerei schnell süßlich und hatte darum in der modernen Kunst einen schlechten Ruf. Pastellig zu arbeiten, kam in der Szene beinahe einer Beschimpfung gleich. Was fängt nun Grüß mit Pastell an?

Weibliche Personen präsentieren sich zum Porträt. Sie tragen merkwürdige Kappen und Hauben. Feine Strichlagen bekleiden sie, Auslassungen markieren, verbergen oder legen Brüste frei. Pinkfarbene Brustwarzen wiederholen sich als Tapetenmuster oder Wandteppiche. Tastende Hände greifen nach den anderen, wie um sich zu vergewissern. Sperrige Linien akzentuieren Silhouetten und schwache Schatten, andere verschwimmen wie durch Schleier. In den subtil schraffierten Teppichformationen kehren Formen wie Kreise und Rauten wieder. Schwarz, weiß und grau nuanciert Grüß Membranen, die Räume bergen, in die sie neonfarbige Flächen stempelt, schabloniert und streicht. Dichte Strukturgewebe treffen auf für das Schaffen von Grüß ungewohnt grelle Farbpartien. Sie blinken regelrecht in Gelb, Orange und Rosa, eine unerwartete Leidenschaft für Rosa zeigt sich, Passion Pink. Doch die Spannung wird mit Maß, Dissonanz mit Harmonie gekontert. Vielfache Übersetzungsakte fließen neben pseudoethnologischem Bildmaterial ein. So leitet das Etymologische Wörterbuch der deutschen Sprache die „Raute“ vom mittelhochdeutschen rūte und sie vom althochdeutschen rūta ab, wiederum entlehnt vom lateinischen ruta, griechisch rhȳtḗ (ῥυτή, „Bitterkraut“). Bitter mag manchen diese Unbestimmtheit erscheinen, die über diesen Blättern liegt. Einst suchten die Romantiker:innen im frühen 19. Jahrhundert die aus den Fugen geratene Welt zu erfassen. Man sah kein Land mehr, Vollkommenheit, Geschlossenheit schien in einer sich rasant eskalierenden Moderne unmöglich. Sie reagierten mit forcierter Subjektivität, Fragmentierung und Verfremdung. Friedrich Schlegel entwickelte mit seinem Kollegen Novalis den modernen Begriff der Romantik und der künstlerischen Produktivität.[2] Novalis übertrug den Gedanken der Produktivität des Geistes auf die Ästhetik und schrieb: „Wir wissen etwas nur – insofern wir es ausdrücken – […] machen können. Je fertiger und mannichfacher wir etwas produciren, ausführen können, desto besser wissen wir es […].“[3] Diese Produktionsästhetik löste die traditionelle Nachahmungslehre ab: „Der Künstler selbst, nicht die Natur, produziert das Schöne.“[4]

Bei Heike Grüß geht es durchaus um das Schöne, aber mit Witz. Sie praktiziert mithin eine tätige Romantik. Und ihre Position ist dezidiert feministisch. Aber was ist an den Pastellen feministisch? Dass die weiblichen Figuren fein und niedlich, aber auch herb und spröde sind? Dass ihre Gesichter unscharf sind, ja, ihnen fast genommen werden? Damit sie sich im Schutz der Weißgrauschleier ihr eigenes Antlitz schaffen können? Und einen eigenen Körper? Sekundäre Geschlechtsmerkmale werden verdeckt, Körper sind vorhanden und verlieren sich zugleich. Der immanente Feminismus liegt in den Methoden, nicht im offenkundigen Motiv oder Antimotiv.

Die Gesichter können nur erahnt werden. Der entscheidende Ort des menschlichen Ausdrucks geht damit verloren. Der Verlust wird oft als Krisenindikator empfunden, denn Gesichter zählen zum etablierten Repertoire künstlerischen Arbeitens. Viele erhoffen sich von einem Bildnis bündige Aussagen zum Subjekt und zur Gesellschaft und sind beunruhigt, wenn ein Individuum nicht eindeutig identifizierbar ist, sich gleichsam entzieht; es verstimmt, wenn etwas offenbleibt, keine hundertprozentige Antwort gegeben wird, sich etwas ständig ändern kann.

Die stilisierten puppenhaften Figuren erinnern mit ihren halbleeren Gesichtern an die Nicht-Gesichter der „Budetljanje“, der „Zukünftler“ von Kasimir Malewitsch. Von 1928 bis 1932 fiel er scheinbar von der Höhe seines Schwarzen Quadrates zurück zu figürlichen Darstellungen; die seltsamen Bauernfiguren gaben lange Zeit Rätsel auf, galten gar als Anpassung an die stalinistische Kulturpolitik und als unvereinbar mit einem – simplifizierten – Fortschrittsdenken in der Kunst. Doch verweisen sie auf reale Zerstörungen, auf eine tatsächlich leere Zukunft, auf ein existentes Nichts. Mit dem Gesicht verschwand die Gewissheit über den Menschen aus Malewitschs Zukunft. Mit Ungewissheit können viele schlecht leben, sie wird oft als nicht aushaltbar empfunden. Die Romantiker:innen erfassten diese wesentliche Stimmung moderner Kunst: Individualität und Klarheit treffen auf das Geheimnis, das Unheimliche. Das verunsichert uns und wir übertragen die Verunsicherung auf unsere Umgebung.

Ein Nicht-Gesicht stellt die Verheißung eines ganzheitlichen Menschenbildes infrage. Was wird zur Darstellung gebracht und was nicht? Denn Leere und Unklarheit ängstigen oft. Dem entgegen füllt Grüß ihre Blätter wie in einem Horror vacui. Aneinander gereihte Schuppenmuster füllen den Hintergrund.

Überzeichnend und schichtend verwandelt sich das Papier stetig. Der Irritationskurs stellt sexistische Maßstäbe infrage. Die Zeichnungen vollziehen sich, wenn ich Novalis auf Grüß beziehe, in der „Kunst – Fähigkeit bestimmt und frey zu produciren […].“[5] Bestimmt, also mit Absicht, und frei, sich spielerisch dem Prozess hinzugeben. Novalis’ Freiheit der Entscheidung – das ist eine gute Idee von einem, der wusste, wie man aus Stoffen wie Kohle, Salz und Mineralien etwas Neues formt. Feministisch ist es, Erwartungen und vermeintlichen Eindeutigkeiten den Boden zu entziehen, die Perspektive zu wenden, durchlässige Räume herzustellen und Verständigung zu ermöglichen.



[1] Verschiedene Formate: 50 × 70 cm, 70 × 100 cm, 100 × 140 cm.

[2] Vgl. Friedrich Kluge/Alfred Götze, Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache. Hg. v. Walther Mitzka, Berlin 1975, S. 606.

[3] Richard Samuel (Hg.), Novalis Schriften. Die Werke Friedrich von Hardenbergs, Stuttgart 1981, Bd. 2, S. 589.

[4] Silvio Vietta, Die Frühromantik. In: Wolfgang Bunzel (Hg.), Romantik. Epoche, Autoren, Werke. Darmstadt 2010, S. 11−25, hier 13.

[5] Richard Samuel (Hg.), Novalis Schriften. Die Werke Friedrich von Hardenberg, Bd. 2, Stuttgart 1981, S. 585.