To announce new shapes
transformed into new bodies
my spirit pushes me.

Ovid. Metamorphoses. First Book
Was sehe ich?

excerpt from Sonne Mond und Sterne
written by Heidi Stecker


    Männer machen Geschichte, Ideen bewirken Umwälzungen, Bücher formulieren noch nie Gesagtes und stiften Religionen, Gedanken lösen Revolutionen aus, bringen Welten zum Einsturz, Menschen kommen plötzlich auf Ideen, auf die noch niemand vor ihnen kam und durchschlagen Gordische Knoten. Als solch ein Mensch, so ein Mann gilt Mikotaj Kopernik alias Nikolaus Kopernikus, der 1473 in Torun geboren wurde und 1543 in Frombork am Frischen Haff starb. Johann Wolfgang von Goethe formulierte das Erstaunen über dessen Leistung und die große Irritation, die er auslöste, so:.,Unter allen Entdeckungen und Überzeugungen möchte nichts eine größere Wirkung auf den menschlichen Geist hervorgebracht haben als die Lehre des Kopernikus. Kaum war die Welt als rund anerkannt und in sich selbst abgeschlossen, so sollte sie auf das ungeheure Vorrecht Verzicht tun, der Mittelpunkt des Weltalls zu sein. Vielleicht ist noch nie eine größere Forderung an die Menschheit geschehen: denn was ging nicht alles durch diese Anerkennung in Dunst und Rauch auf: ein zweites Paradies, eine Welt der Unschuld, Dichtkunst und Frömmigkeit, das Zeugnis der Sinne, die Überzeugung eines poetisch religiösen Glaubens, kein Wunder, dass man dies alles nicht wollte fahren lassen, dass man sich auf alle Weise einer solchen Lehre entgegensetzte, die denjenigen, der sie annahm, zu einer bisher unbekannten, ja ungeahnten Denkfreiheit und Großheit der Gesinnungen berechtigte und aufforderte." (aus den "Materialien zur Geschichte der Farbenlehre", 1810) Da gratulierte nicht nur ein Genie dem anderen auf Augenhöhe, Goethe einem in Polen lebenden Herrn mit der charakteristischen Haarpracht, Pan Kopernikus, sondern riss die sehr komplexe Rezeption und die Folgen der nicht ganz so neuen Ideen des Wissenschaftlers an.
    Der hätte seine Leserinnen vielleicht so ansprechen können: „Ciesze sie, ze cie widze! Serdecznie witamy! Te salvere iubeo! Ich begrüße dich, ich heiße dich willkommen! Herzlich willkommen! Ich freue mich, Sie zu sehen!" ( Man kann natürlich nachlesen, wie er seine Leser - wahrscheinlich eher Männer als Frauen - konkret ansprach, aber für diesen Moment lassen wir das hier so stehen.)
    Mikotaj Kopernik bzw. Nikolaus Kopernikus beschrieb also als erster das Weltbild, das als heliozentrisches bezeichnet wird. Er bewegte sich, aufbauend auf seinen Vorgängern, am weitesten weg von einer Spekulation, die die astronomischen Seltsamkeiten und Abweichungen zum Beispiel bei der Seefahrt erklären konnte, hin zu einer beweisbaren Theorie. Nach dieser dreht sich die Erde um ihre eigene Achse und, wie auch die anderen Planeten, um die Sonne.
    Damit stellte er grundsätzlich den Aufbau der Welt und den Platz des Menschen in dieser Welt in Frage und, wie Goethe richtig bemerkte, "das Zeugnis der Sinne", Seine Interpretation der Bewegungen der Himmelskörper wird oft als Wende im Denken der Menschen verstanden. Aber was genau hat sich gewendet? Und kann man diese Wende - obwohl seine Interpretation die vorläufige Wahrheit ist - als menschliche Wohltat verstehen? Diese Wende bedeutet nämlich auch, dass man seinen eigenen Augen nicht trauen darf, denn die zeigen einem doch ganz deutlich, dass die Sonne sich täglich bewegt. Und man selbst fällt eben nicht von einer kreisenden Erde herunter. Was rational und logisch nicht anders sein konnte. verlangte den Menschen ab, etwas zu glauben, was ein Intellektueller ihnen vorrechnet, aber was ihnen ihr eigener Alltag nicht bestätigt. Die menschliche Wahrnehmung bzw. die greifbare Realität („Was sehe ich?" „Ist die Wirklichkeit so. wie ich sie sehe?") und das, was die Naturwissenschaft sagt und was sozusagen richtig ist, stimmt nicht mehr überein. Der schmerzhafte Bruch mit allen Selbst-verständlichkeiten, der symbolische Riss im Himmelszelt bedeutet:
    Das, was Du siehst, ist nicht das, was ist. Alles ist ins Wanken gebracht, nicht zuletzt politische Verhältnisse: Gibt es nicht nur geografisch, sondern auch sozial kein Oben, kein Unten mehr?
    Den Menschen wird viel zugemutet. Sie sollen etwas glauben, was ihren Platz und damit Wert grundlegend in Abrede stellt. Der Mensch wird zusammen mit der Erde aus dem Mittelpunkt des Alls verstoßen. Aber was ist er an der Peripherie noch wert? Steht dann der Mensch nicht zur Disposition? Ist dann nicht alles möglich?
    Kann man dann nicht alles mit ihm machen? Ist dann nicht alles erlaubt, wie Fjodor M. Dostojewski seine Protagonisten im Roman "Die Brüder Karamasow" diskutieren lässt? (Wir kennen die Antwort. ) Auch Bertolt Brecht lässt in seinem "Leben des Galilei" Kirchenvertreter diese brennenden Fragen stellen. Ist es nicht fahrlässig von Wissenschaftlern wie Kopernikus, die Menschen solchen Ungewissheiten auszusetzen? Sie sollen etwas zur Grundlage ihres Denkens und Handelns machen, was, wiewohl es die sinnvollste These ist, - noch - nicht einmal völlig beweisbar ist.
    Die Glaubensfähigkeit wird auf eine harte Probe gestellt, und zwar nicht der Glaube an Gott, sondern der an Menschen, die einfach daherkommen und einem schier Unglaubliches erzählen, von unsichtbaren Wesen, die Krankheiten auslösen, dass es kein Oben und Unten gibt, das die Erde sich dreht, ohne dass man ins All abhebt, und wo es keinen Platz für Gott und seine Engel gibt (Und wo bleiben die Seelen? Welch Abgrund an Ortlosigkeit tut sich auf!)