Sag ich das Wort Zukunft,
ist seine erste Silbe bereits Vergangenheit.
Sag ich das Wort Stille,
vernichte ich sie.
Sag ich das Wort Nichts,
schaffe ich etwas, das in keinem Nichtsein Raum hat.
Wis awa Szymborska, die polnische Literatur-Nobelpreisträgerin, zählt in ihrem Gedicht Widersprüche auf, die unausweichlich zu sein scheinen. Sie begegnen einem auch im Werk der Künstlerin Heike Lydia Grüß: Durch sein Tun zwangsläufig immer ein Gegenteil schaffen, einreißen, was man aufgebaut hat, nach vorn blicken und dabei im Gestern stehen. Denn Grüß, die in Berlin und Ludwigsburg lebt und arbeitet, arbeitet häufig in Serien. Die Blätter verlängern sich dadurch in Raum und Zeit; das im Augenblick stillstehende Bild wird zum bewegten und arbeitet sich, mit Blick und Blick wandernd, mit der Hand blätternd, voran und zurück. Dabei erkundet Grüß gleiche oder ähnliche Motive und erprobt Neues. So in der Serie “Passion Pink“ von 2020, die sie mit Pastellstiften auf Papier brachte. Mit den pulverigen und die Konturen sanft verwischenden Pigmenten wurden duftige und zarte Mädchen- und Damenbildnisse gemalt, so im 18. Jahrhundert von Rosalba Carriera und Jean-Étienne Liotard. Die samtig-matte Oberfläche der Porträts bewirkt eine ganz besondere Leuchtkraft. Jedoch wirkt Pastellmalerei schnell süßlich und hatte darum in der modernen Kunst einen schlechten Ruf. Pastellig zu arbeiten, kam in der Szene beinahe einer Beschimpfung gleich. Was fängt nun Grüß mit Pastell an?
Weibliche Personen präsentieren sich zum Porträt. Sie tragen merkwürdige Kappen und Hauben. Feine Strichlagen bekleiden sie, Auslassungen markieren, verbergen oder legen Brüste frei. Pinkfarbene Brustwarzen wiederholen sich als Tapetenmuster oder Wandteppiche. Tastende Hände greifen nach einander, wie um sich zu vergewissern. Sperrige Linien akzentuieren Silhouetten und schwache Schatten, andere verschwimmen wie durch Schleier. In den subtil schraffierten Teppichformationen kehren Formen wie Kreise und Rauten wieder. Schwarz, weiß und grau nuanciert Grüß Membranen, die Räume bergen, in die sie neonfarbige Flächen stempelt, schabloniert und streicht. Dichte Strukturgewebe treffen auf für das Schaffen von Grüß ungewohnt grelle Farbpartien. Sie blinken regelrecht in Gelb, Orange und Rosa, eine unerwartete Leidenschaft für Rosa zeigt sich, Passion Pink. Doch die Spannung wird mit Maß, Dissonanz mit Harmonie gekontert.
Trotzdem bleibt eine beunruhigende Ungewissheit. Einst suchten die Romantiker*innen im frühen 19. Jahrhundert die aus den Fugen geratene Welt zu erfassen. Man sah kein Land mehr, Vollkommenheit, Geschlossenheit schien in einer sich rasant eskalierenden Moderne unmöglich. Sie reagierten mit forcierter Subjektivität, Fragmentierung und Verfremdung. Friedrich Schlegel entwickelte mit seinem Kollegen Novalis den modernen Begriff der Romantik und der künstlerischen Produktivität. Novalis übertrug den Gedanken der Produktivität des Geistes auf die Ästhetik und schrieb: „Wir wissen etwas nur – insofern wir es ausdrücken – [...] machen können. Je fertiger und mannichfacher wir etwas produciren, ausführen können, desto besser wissen wir es [...].“ Diese Produktionsästhetik löste die traditionelle Nachahmungslehre ab, „Der Künstler selbst, nicht die Natur, produziert das Schöne“. Bei Heike Grüß geht es durchaus um das Schöne, aber mit Witz. Und ihre Position ist dezidiert feministisch. Aber was ist an den Pastellen feministisch? Dass die weiblichen Figuren fein und niedlich, aber auch herb und spröde sind? Dass ihre Gesichter unscharf sind, ja, ihnen fast genommen werden? Damit sie sich im Schutz der Weißgrauschleier ihr eigenes Antlitz schaffen können? Und einen eigenen Körper? Sekundäre Geschlechtsmerkmale werden verdeckt, Körper sind vorhanden und verlieren sich zugleich. Der immanente Feminismus liegt in den Methoden, nicht im offenkundigen Motiv oder Antimotiv.
Die Gesichter können nur erahnt werden. Der entscheidende Ort des menschlichen Ausdrucks ging verloren. Solch ein Verlust wird oft als Krisenindikator empfunden, weil Gesichter zum etablierten Repertoire künstlerischen Arbeitens zählen. Viele erhoffen sich von einem Bildnis bündige Aussagen zum Subjekt und zur Gesellschaft und sind verunsichert, wenn ein Individuum nicht eindeutig identifizierbar ist, sich gleichsam entzieht; es verstimmt, wenn etwas offen bleibt, keine hundertprozentige Antwort gegeben wird, sich etwas ständig ändern kann. Mit Unklarheit können viele schlecht leben, sie wird oft als nicht aushaltbar empfunden. Die Romantiker*innen erfassten diese wesentliche Stimmung moderner Kunst: Individualität und Klarheit treffen nun auf das Geheimnis, das Unheimliche. Sigmund Freud weist es als durch „Urteilsunsicherheit“ gekennzeichnet aus. Wir sind uns unseres Urteils nicht (mehr) sicher und übertragen dies auf unsere Umgebung.
Ein Nicht-Gesicht stellt ein ganzheitliches Menschenbild in Frage. Was wird zur Darstellung gebracht und was nicht? Denn Leere und Unklarheit ängstigen oft. Dem entgegen füllt Grüß ihre Blätter wie in einem Horror vacui. Aneinander gereihte Schuppenmuster füllen den Hintergrund. Überzeichnend und schichtend verwandelt sich das Papier stetig. Der Irritationskurs stellt sexistische Maßstäbe in Frage.
Vielfache Übersetzungsakte fließen in die Bildschichten ein, unter anderem die Auseinandersetzung mit ethnologischem Material, das den weiblichen Körper fokussiert. Grüß arbeitet seit vielen Jahren mit Darstellungen, die – nicht nur in seiner Entstehungszeit – Voyeurismus bedienten und Rassismus illustrierten. Die kolonialen Motive wurden oft mit dem Forschungsinteresse der meist männlichen Ethnologen und Anthropologen des 19. und frühen 20. Jahrhunderts begründet. Die Bilder faszinieren mit beunruhigender, aber ungebrochener Anziehung. Ihr spürt Heike Grüß nach, dem Sichtbaren, dem Unsichtbaren und den wechselseitigen Blicken – oder der Blickverweigerung. Auch bei „Passion Pink“ bildet dieser krude Fundus einen Hintergrund und markiert den weiten Weg, den diese Abgebildeten zurückgelegt haben, denn: Woher kommen diese fast nackten Damen? Warum sind sie so hüllenlos?
Um 1900 fütterten etliche Bücher mit Fotografien, Zeichnungen und Stichen die Leser*innen mit ethnologischen bzw. anthropologischen Darstellungen nackter oder nur teilweise bekleideter Frauen. Bizarre Frisuren, tätowierte Haut und wunderlicher Körperschmuck lassen die Frauen unzivilisiert und rätselhaft erscheinen. Die Bilder führen die Fremden als vermeintliche Wahrheit vor, illustrieren aber eher Wunschbilder und Körperfantasien ihrer Urheber*innen und immer wieder herabwürdigende Vorstellungen vom Anderen.
Reisemaler*innen, Autor*innen und Stecher*innen verwoben seit der Antike fantasievoll Gesehenes, Gehörtes und Erlebtes, um das Andere zu präsentieren, in dem sie entweder dessen vermeintliche Wildheit betonten oder einen idealen Ur- bzw. Naturzustand konstruierten. Die ethnologischen Fotografien haben gemeinsam, was sie zugleich vom zeitgenössischen europäischen Porträt unterscheidet: Die Porträtierte wird inszeniert, ohne auf die Darstellung selbst Einfluss zu nehmen. Das Moment der Selbstinszenierung fehlt.
So mancher weiße Fotograf half nach, indem er die Frauen zum Posieren zwang und, mehr noch, nötigte, sich ihrer Kleidung zu entledigen, vorspiegelnd, „Wilde“ wären ja naturgegeben nackt oder andere Kulturen eben nicht prüde und was der Vorwände für die angeblich anthropologischen Dokumentationen mehr waren. Gerade die erotische Anmutung mancher Aktaufnahmen wurde durch die ihre wissenschaftliche Schein-Legitimation gedeckt.
Anthropologie und Ethnologie sind ohne die sich entwickelnde Fotografie nicht denkbar. Die Wiedergabe eines objektiven Bildes Anderer blieb unmöglich, bis die Fotografie versprach, Wahrheit zu liefern, und die Sammelwut der Museen, Sammlungen und anthropologischen Gesellschaften bediente. Bildgestaltung und Komposition orientierten sich am Publikumsgeschmack zwischen rassistischer Typisierung und akademisch-künstlerischer Aktdarstellung. Die Pseudowissenschaftlichkeit erlaubte es, die Aktfotografien in der weißen Gesellschaft zu verbreiten. Buchtitel wie “Die Schönheit des weiblichen Körpers“, “Die Rasseschönheit des Weibes“ oder “Das Weib in der Natur- und Völkerkunde“ erschienen über Jahre in hohen Auflagen. So mussten vermeintlich exotische Frauen stellvertretend für weiße Frauen männliche Schaulust befriedigen. Abbildungen nackter weißer Frauen hingegen brauchten noch eine Weile mythologische Bemäntelungen, wurden zensiert und heimlich konsumiert.
Indem Grüß Körperpartien abdeckt oder auslöscht, entzieht sie die gezeichneten Frauen diesen Übergriffen, verleiht ihnen Würde und bildet einen Schutzraum. Ihre Zeichnungen vollziehen sich, wie Novalis sagte, in der “Kunst – Fähigkeit bestimmt und frey zu produciren [...]“. Bestimmt, also mit Absicht, und frei, sich spielerisch dem Prozess hinzugeben. Novalis’ Freiheit der Entscheidung, das ist eine gute Idee von einem, der wusste, wie man aus Stoffen wie Kohle, Salz und Mineralien etwas Neues formt. Feministisch ist es, Erwartungen und vermeintlichen Eindeutigkeiten den Boden zu entziehen, die Perspektive zu wenden, durchlässige Räume herzustellen und Verständigung zu ermöglichen.
Heidi Stecker, 2021, für Hanna-Arendt-Institut für Totalitarismusforschung e.V. Dresden HAIT / TU Dresden